Selten hat eine Veröffentlichung der EKD so heftige Reaktionen ausgelöst wie die Orientierungshilfe zur Familie. „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“. So lautet der Titel und so wird das Ziel definiert.
Worum geht es der Orientierungshilfe im Kern?
Sie beginnt mit einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen vielfältigen Lebensrealität von Familien und dem gesellschaftlichen Ideal der Autonomie des Einzelnen. Familie wird im Sinne eines erweiterten Familienbegriffs als eine „auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Fürsorgebeziehung“ (a.a.O., 62) verstanden, unabhängig von der Form des Zusammenlebens. Es geht um Verlässlichkeit, die „für jede Gemeinschaft konstitutiv ist, weil sie die Schwächeren schützt und damit erst den Spielraum für Freiheit und Entwicklung eröffnet“ (a.a.O., 62).
„Familie, das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork- Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung“ (a.a.O., 22).
All diese Familienformen werden als gleichwertig anerkannt.
Es geht um Gerechtigkeit: Eine gerechte Sozial- und Familienpolitik, um qualitativ gute Infrastrukturangebote wie Tageseinrichtungen oder Ganztagsschulen und gerechte Aufgabenverteilung in Familie und Beruf.
Der Text will ausdrücklich zu einem Leben mit Kindern und zu familiärer Stabilität ermutigen. Dabei spielt der Segen Gottes eine große Rolle. Er gilt der Ehe und allen verbindlichen Lebensformen.
Einer der wohl am meisten provozierenden Sätze lautet: „Ein normatives Verständnis der Ehe als ‚göttliche Stiftung‘ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entspricht nicht der Breite des biblischen Zeugnisses“ (a.a.O., 54). Damit soll nicht die traditionelle Ehe entwertet werden. Sie wird als gute Gabe Gottes verstanden. Die Rechtsform der Ehe wird als besondere Stütze und Hilfe ausdrücklich gewürdigt. Im Gegenteil: Die konstitutiven Werte einer Ehe, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit, Partnerschaftlichkeit und Gerechtigkeit, sollen für alle Formen von Familie gelten. Insofern hat die Ehe nach wie vor Leitbildcharakter.
Gestritten wird auf dem Hintergrund des erweiterten Familienverständnisses dennoch vor allem über den Stellenwert der Ehe in der evangelischen Kirche.
Die Kritik an der Orientierungshilfe gilt eindeutig den biblisch-theologischen Aussagen: Die besondere Bedeutung der Ehe werde nivelliert. Der Text widerspreche biblischer Weisung und passe sich dem Zeitgeist an. Damit sind hermeneutische Grundsatzfragen gestellt.
Nikolaus Schneider, der EKD-Ratsvorsitzende, hat vor der letzten EKD-Synode im vergangenen November aufgrund der Kritik an der Orientierungshilfe zum evangelischen Schriftverständnis Stellung bezogen. Die Bibel ist „norma normans“, sie ist und bleibt kritisches Gegenüber für die menschliche Erkenntnis. Sie darf nicht zu einem Bestätigungsbuch der eigenen Überzeugungen degradiert werden. „Wir müssen sie aber – um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen – nicht nur für uns, sondern auch gegen uns lesen.“
Schneider unterscheidet – in Anlehnung an Karl Barth – das geschriebene Wort Gottes, die Bibel, vom geoffenbarten Wort Gottes, und das ist Jesus Christus. „Die Mitte der Schrift ist Jesus Christus selbst, Gottes Güte und Barmherzigkeit.“ Das geschriebene Wort ist nur Wort Gottes, wenn es der Botschaft von Jesus Christus entspricht. „Was Christum treibet, ist nach Luther die hermeneutische Frage, mit deren Hilfe sich uns der Sinn des geschriebenen Gotteswortes erschließt.“ Die historisch-kritische Auslegung der Bibel verhindert, dass wir historische Gegebenheiten der damaligen Umwelt als Gottes Willen missverstehen. „Die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ist der Grund des christlichen Glaubens. Von dieser Selbstoffenbarung Gottes wissen wir aber nur durch das Glaubenszeugnis der Bibel.“ (Härle)
Was sagt die Heilige Schrift zur Familie?
Im Alten Testament hatte die Familie eine herausragende Bedeutung. Die Überlieferung vom Heilswirken Gottes ist in Israel größtenteils in der Familie weitergegeben worden. Der Gott der Väter ist zunächst ein Familien- und Sippengott, benannt nach dem Patriarchen, der zuerst seine Offenbarung empfing. Es ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Bei Josua 24, V. 15, heißt es: „Ich und meine Familie wollen Jahwe dienen.“
In Israel gab es verschiedene Familienformen, sowohl historisch nacheinander als auch nebeneinander. In der nomadischen Zeit waren es wehrhafte Großfamilien, und in der Zeit der Sesshaftigkeit war die Familie vor allem eine Produktionsgemeinschaft. Zur Familie gehörte das Familienoberhaupt mit seiner Frau bzw. seinen Frauen, seine Söhne – mit deren Frauen, wenn sie verheiratet waren – seine unverheirateten und verwitweten Töchter, Enkel, aber auch Bedienstete und Gäste. Die Autoritätsfrage wurde patriarchal gelöst (Jer. 35,6-10), es gab aber auch bipolare Tendenzen (Spr. 1,8; Spr. 39,17; Dtn. 21,18f.).
Wirtschaftliche Notwendigkeiten bestimmten das Zusammenleben. Lebensunterhalt und Schutz konnte man nur gemeinsam sichern. Deshalb war die Solidarität innerhalb der Familie von größter Bedeutung.
Die Familie wurde durch drei Gebote geschützt: Das Gebot, die Eltern zu ehren, (Exodus 20,12), das Gebot, die Ehe nicht zu brechen (Exodus 20,14) und das Gebot, der Familie die wirtschaftliche Grundlage nicht zu entziehen (Exodus 20,17).
Die Ehe ist eine Institution des privaten Vertragsrechts zwischen den Familien der Ehepartner. Sie wurde von den Familien arrangiert. Mit der sexuellen Vereinigung ist die Ehe gültig. Die Ehe von Mann und Frau steht, wenn es um Familie geht, geradezu selbstverständlich im Raum.
Trotz aller rechtlichen Regelungen ist das AT ein beredtes Zeugnis, dass intensive Liebesverhältnisse zwischen den Ehepartnern möglich sind. Wenn Liebe und Ehe zusammentreffen, wie bei Isaak und Rebekka, gilt das als Ausdruck göttlichen Segens (Gen. 24,67; 29,18). Trotz der in den Königshäusern verbreiteten Polygynie deutet vieles darauf hin, dass die monogame Ehe eher der Regelfall war (Hugenberger 1994. 122; 4 Vgl. Ri. 13; 2.Kön.4,8-37; Ruth; Spr. 5.18f.) und zwei Frauen nur in Ausnahmefällen wie Krankheit der Frau oder Kinderlosigkeit genommen wurden (Otto 1994, 49.51.).
Die Geburt von Kindern – v.a. von Söhnen – war ein Segen, sie hob und sicherte die Stellung der Frau. Kinderlosigkeit galt für Mann und Frau als schweres Schicksal (Gen. 30). Die Erziehung der Kinder war Aufgabe der Eltern, wobei die religiöse Erziehung in den Aufgabenbereich des Vaters fiel.
Wenn im Alten Testament von Familie die Rede ist, dann realistisch und schonungslos. Es werden alle nur möglichen Konflikte zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern beschrieben:
1. Konflikte zwischen Eltern und Kindern:
– Abraham verstößt seinen Sohn Ismael mit Hagar, seiner Nebenfrau. Kinder werden nicht immer als Segen empfunden.
– Jakob zieht seinen Sohn Josef den anderen Brüdern so vor, dass diese nur Hass auf ihren Bruder empfinden.
– Die Söhne Noahs übertreten die Schamgrenze ihres Vaters, ein frevelhaftes Verhalten.
2. Konflikte zwischen Mann und Frau:
– Abraham liefert Sarah, seiner Frau, aus Furcht dem Pharao aus und leugnet, dass sie seine Frau ist.
– Rebekka betrügt ihren alten Mann Isaak, indem sie Jakob hilft, sich den väterlichen Segen zu erschleichen, der eigentlich seinem Bruder zustand.
3. Konflikte um eine Frau
– David lässt Uria, den Mann von Bathseba, töten, um dessen Frau zu bekommen. Ehebruch, Intrige und Mord werden hier beim Namen genannt…
4. Konflikte zwischen Geschwistern:
– Kain und Abel
– Jakob und Esau
– die Vergewaltigung Tamars durch ihren Halbbruder Ammon (2. Sam. 13)
Eine entscheidende Perspektive des AT in Hinblick auf diese Konflikte ist, dass Gott zum Anwalt für die Opfer wird. Gott ergreift Partei für Sara, der von ihrem Mann verratene Frau, und schützt sie. Und Gott ist es auch, der der schwangeren Hagar, die von Abraham, dem Vater ihres Kindes, in die Wüste geschickt wird, Engel zur Seite stellt. „Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie nicht gezählt werden können.“ „Du bist ein Gott, der mich sieht“, so nennt Hagar ihren Gott.
Und als Hanna im Samuelbuch von der anderen Frau ihres Mannes wegen ihrer Kinderlosigkeit gekränkt wird, ist es Gott selbst, der sich schützend vor Hanna stellt.
Noch eine zweite Perspektive möchte ich nennen, die die hebräische Bibel durchzieht: Die Verheißung Gottes gilt für die Menschen in all ihrem Scheitern und ihrer Fehlbarkeit.
Die Verheißung an Abraham: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“
Mit Menschen in all ihrer Unvollkommenheit schließt Gott seinen Bund. Darin eingeschlossen ist das Gebot der Fürsorge, nicht nur für die eigene Familie, sondern besonders für die Witwen und Waisen, und – immer wiederkehrend – für die Fremden.
Noch ein Wort zur Bedeutung der Ehe im AT: Mit dem Bild der Ehe wird in der prophetischen Literatur auch die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk beschrieben. Die Ehe eines Propheten kann sogar als Zeichenhandlung für das Verhältnis zwischen Gott und Israel dienen. Hosea soll eine Prostituierte heiraten. Damit wird das fehlerhafte Verhalten Israels, sein Abfall zu fremden Göttern, aber auch die grenzenlose Liebe Gottes zu seinem Volk verdeutlicht (Hos. 1-3).
Das Neue Testament steht zu Verwandtschaft und Familie durchaus auch kritisch: Die Geschichte von Jesu wahren Verwandten überliefert Lukas so: „Es kamen aber seine Mutter und seine Brüder zu ihm (Jesus) und konnten wegen der Menge nicht zu ihm gelangen. Da wurde ihm gesagt: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich sehen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun.“ Die natürliche Familie wird durch die „familia die“, die glaubende Gemeinde, ersetzt.
Wer weiß, welche Bedeutung die Mutter bis zum heutigen Tag in der jüdischen Tradition hat, welche Autorität ihr zukommt, der spürt das Feuer der Revolte, das in diesem Text enthalten ist. Bei Markus sagt Maria darauf sogar von Jesus: „Er ist von Sinnen.“ Die Familie Jesu, keine heilige Familie.
Die Nachfolge Jesu verändert die Loyalitäten. Der Ruf in die Nachfolge Jesu löst den Einzelnen aus der Familie heraus (Mk. 1, 20). Selbst elementare familiäre Pflichten wie das Begräbnis des Vaters (Lk. 9, 59f.) müssen hinter der Nachfolgeforderung zurückstehen. „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber folge mir nach.“
„Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien von seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter (Mt. 10,15).“
Eindrücklich ist Jesu Auffassung von der Unauflöslichkeit der Ehe. Jesus betont die Übereinstimmung des göttlichen Willens mit einem auf lebenslange Dauer angelegten und verbindlichen Miteinander eines Mannes mit seiner Frau (Markus 10, 1-12). „Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“
Das Scheidungsverbot kann aber zur Lösung unerträglicher Lebensumstände aufgehoben werden: „Um eures Herzens Härte willen“ hat Mose die Möglichkeit eines Scheidebriefes gegeben. Das Scheidungsverbot Jesu zielt auf das Recht und den Schutz der Frau und wendet sich gegen die patriarchalische Praxis, Frauen in die materielle Not und soziale Isolation zu verstoßen.
Wichtig ist in der Verkündigung Jesu seine Anwaltschaft für die Kinder! „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht. Denn solchen gehört das Himmelreich (Mt. 19, 14).“
„Wer ist doch der Größte im Himmelreich. Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Kinder können auch deshalb ein Segen für Erwachsene sein.
Aber er warnt die Erwachsenen auch: „Wer aber einen dieser kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinem Hals hängt und er ersäuft würde im Meer.“
Der Anwaltschaft für die Kinder entspricht seine Anwaltschaft für die alten Menschen: Das vierte Gebot des Dekalogs „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren…“ zielt auf die Fürsorge der erwachsenen Kinder für ihre alten Eltern. Diese war in der damaligen Gesellschaft lebensnotwendig. Entsprechend scharf wendet sich Jesus gegen den in seiner Zeit verbreiteten Bruch der solidarischen Beziehungen, wenn Kinder sich aus der Verpflichtung, für die alten Eltern zu sorgen, mit einer Abgabe für den Tempelkult herauskauften: Er sagt dazu: „Gottes Wort wird aufgehoben, wenn jemand zu Vater und Mutter sagt: Eine Opfergabe soll sein, was dir von mir zusteht (Mt.15,1-6).“
Ich verbinde besonders mit Jesus:
Sein unbedingtes Eintreten für die Schwachen, die Ausgegrenzten, ganz gleich ob sie ohne eigene Schuld wie die Kranken und Aussätzigen an den Rand gedrängt wurden, oder sich wie die Zöllner schuldig gemacht haben. Das Gleichnis vom Verlorenen Schaf macht deutlich: Kein Mensch darf verloren gehen.
Das ist die geoffenbarte Gottesbotschaft in Jesus Christus: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
Paulus fasst die Konsequenz für uns so zusammen: „Darum nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat.“ Und: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Beide Sätze gelten für meinen Umgang mit Menschen, in welchen Familienformen sie auch immer leben.
Familie und Ehe im Wandel
Soziologisch ist zu sagen, dass die Lebenswirklichkeit heutiger Menschen einem rasanten Wandel unterworfen ist. Die Auflösung traditioneller Vorgaben und Gewissheiten für die eigene Lebensgestaltung bedeutet, dass jeder und jede das eigene Leben heute individuell gestalten kann, aber auch gestalten muss. Jeder ist seines Glückes Schmied.
Die gesellschaftliche und familiäre Entwicklung seit den Fünfziger Jahren lässt sich mit dem Soziologen Gerhard Schulze auf zwei Begriffe bringen: Entgrenzung und Wahlfreiheit.
Entgrenzung kennzeichnet am eindrücklichsten den Wandel des Alltagserlebens.
In den Fünfziger Jahren gab es eine unhinterfragte Ordnung von oben und unten, gut in Filmen jener Zeit wie „Sissi“ oder „Schwarzwaldmädel“ zu beobachten. In klaren sozialen Vertikalen stehen sich gegenüber: Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler, Mann und Frau. Die geschlechtsspezifische Zuteilung ist eindeutig: Paragraph 1356 des Bundesgesetzbuches BGB lautet: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“
Völlig anders lässt sich dagegen die Gesellschaft heute kennzeichnen. Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck bringt es auf den Punkt: „Heute ist nicht mehr klar, ob man heiratet, ob man zusammen lebt und nicht mehr heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, – ob man überhaupt ein Kind bekommt, und wenn – ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt und aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mittendrin. „Anything goes“ – alles geht oder scheint zumindest zu gehen.“
Das zweite Kennzeichen unserer Tage ist die Wahlfreiheit (Gerhard Schulze). Die paradigmatische Gestalt der Gegenwart ist der Wählende, der auswählt aus der Fülle der Möglichkeiten. Die wählende Existenz ist durch zwei Grundfragen gekennzeichnet: „Was will ich eigentlich?“ und „Gefällt es mir wirklich?“. Situationen werden arrangiert mit dem Ziel eines Glückserlebnisses: „Erlebe dein Leben!“ heißt der kategorische Imperativ der Erlebnisgesellschaft. Schnelllebigkeit und Mobilität kennzeichnen die Alltagsexistenz: einschalten, ausschalten, hinfahren, wegfahren, etwas anfangen, wieder damit aufhören, zusammenziehen, sich trennen.
In der Erlebnisgesellschaft dominieren Kontakte, die flüchtig und anonym sind und von emotionaler Distanz geprägt werden. Manche können gut damit leben, aber andere, gerade Kinder und Jugendliche, erleben einen grundlegenden Mangel.
Vance Packard, ein bedeutender Sozialkritiker, hat schon vor 25 Jahren den „Verlust der Geborgenheit“ als zentrales Problem moderner Gesellschaften diagnostiziert. Und die seelische Obdachlosigkeit wächst in Zeiten der Globalisierung. Der Verlust der Geborgenheit, die wachsende Anonymität, der Zerfall eines funktionierenden Gemeinschaftslebens und das Zerbrechen von Familien und Partnerschaften stellen immer mehr Menschen vor elementare Herausforderungen.
Noch einmal Ulrich Beck: „Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie, zur Bastel-, Risiko-, Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie.“ Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, dann ist jeder auch allein verantwortlich für sein Scheitern.
Ehe und Familie ein Auslaufmodell?
Nach welchen Lebensformen suchen Menschen heute? In welchen Familienformen leben sie? Und was sind die spezifischen Herausforderungen der verschiedenen Lebens- und Familienformen?
Erstaunlicherweise steht eine auf lebenslange Dauer angelegte Ehe weiter hoch im Kurs. Die repräsentative Schell-Jugendstudie hat 2010 gezeigt, dass die Bedeutung der Familie für die Jugend noch zugenommen hat. Sie suchen in der Familie Rückhalt, emotionale Unterstützung und vermittelte Sicherheit.
„Entgegen der These von der Auflösung von Ehe und Familie lässt sich bei den heutigen Jugendlichen eine starke Familienorientierung feststellen. Mehr als drei Viertel der Jugendlichen (76 %) stellen für sich fest, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können.“ (2010, 17) Auch in Bezug auf Treue äußern 78 % der Jugendlichen, diese sei für sie notwendig in einer Beziehung.
Repräsentative Befragungen von Erwachsenen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen. Sogar 84 % der Männer und 87 % der Frauen sind der Meinung, dass Treue für eine gute Ehe bzw. Partnerschaft sehr wichtig ist.
Das Statistische Bundesamt kommt in einer Längsschnittstudie zu dem Ergebnis, für 90 % der Bevölkerung stehe eine glückliche Ehe/Partnerschaft an erster Stelle der privaten Ziele, in Ost und in West. Ich zitiere diese Zahlen in absolutem Respekt vor denen, die für sich andere Ziele setzen.
Das Institut für Demoskopie Allensbach fasst alle Untersuchungsergebnisse so zusammen: „Insgesamt gibt es wenig Anzeichen dafür, dass Formen des Zusammenlebens entstanden sind, die für die Mehrheit der Bevölkerung erstrebenswerter und lohnender sind als die auf Dauer angelegte, traditionelle Familie, deren Ende manche gekommen glauben.“ Gleichzeitig lässt sich aber eine hohe Toleranz gegenüber den so genannten neuen Lebensformen feststellen (Dobritz/Lengerer/Ruckdeschel 2005, 8).
Serialität und Diskontinuität der Paarbeziehungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wunsch nach dauerhaften, ja lebenslangen Beziehungen nach wie vor sehr stark ist (Hamburger DFG-Studie: in: Schmidt/Stritzky 2004, 98).
Allerdings ist die Ehe für viele kein Wert mehr an sich. Sondern es geht um die tatsächlich gelebten Beziehungen. Die oft konstatierte Krise von Ehe und Familie muss also differenziert betrachtet werden.
Zurzeit sind 45,7 % der Menschen in Deutschland verheiratet, 40 % ledig, 7,2 % verwitwet, 7,1 % geschieden und 68.000 leben in eingetragenen Lebenspartnerschaften (Statistisches Bundesamt, Zensus 2011). 7.000 Kinder leben in einer Regenbogenfamilie.
Fast jede dritte Familie hat einen Migrationshintergrund. Der Anteil der unter 18-Jährigen mit Migrationshintergrund beträgt in manchen Regionen mehr als die Hälfte.
Die Krise von Ehe und Familie lässt sich – neben der Zunahme der Scheidungen – vor allem dadurch beschreiben, dass die Geburtenzahlen seit Mitte der 70er Jahre auf einem niedrigen Niveau verharren. In großen Städten leben heute in 5 von 6 Haushalten keine Kinder mehr.
Ganz offensichtlich lassen sich Wunsch und Wirklichkeit zunehmend schwerer verbinden. Denn der Kinderwunsch ist nach wie vor bei vielen vorhanden.
Es sind vor allem ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die die Erfüllung des Kinderwunsches bei vielen jungen Menschen verhindern: Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege führen bei immer mehr von ihnen zu einem Verschieben des Kinderwunsches. Der Begriff der Generation Praktikum bringt es auf den Punkt. 42 % der neuen Arbeitsverträge sind befristet und bedeuten somit prekäre Arbeitsverhältnisse.
Der Anteil derer, die freiwillig oder unfreiwillig auf Kinder verzichten, wächst. Fast die Hälfte der Akademikerinnen bleibt heute kinderlos.
Interessant ist, dass die wichtigste Bedingung für die Umsetzung des Kinderwunsches nicht die wirtschaftliche Sicherheit ist, sondern ob man sich mit dem Partner bzw. der Partnerin eine dauerhafte Beziehung vorstellen kann und beide sich ein Kind wünschen. Gerade die Stabilität der Partnerschaft ist von entscheidender Bedeutung für die Stabilität im Familiensystem.
Als neuer Typ von Ehe hat sich die so genannte Commuter-Ehe herausgebildet (amerikanisch: to commute = pendeln). Darunter versteht man Ehen, in denen die Partner gezwungen sind, zwei räumlich getrennte Haushalte zu führen, so dass ein Zusammenleben als Paar und Familie nur am Wochenende möglich ist.
Nichteheliche Lebensformen
Die Nichtehelichen Lebensformen haben sich in weniger als zwei Jahrzehnten von einer stigmatisierten Randerscheinung zur gesellschaftlichen Normalität entwickelt. Der erste Leiter der Hauptstelle, Dr. Guido Gröger, wurde noch von Kreissynoden eingeladen zum Thema: „Wie schädlich ist vorehelicher Sexualverkehr?“
In den alten Bundesländern wird heute jedes fünfte Kind und in den neuen Ländern jedes zweite Kind außerhalb der Ehe geboren. Ca. 50 % der Eltern entschließen sich nach der Geburt zur nachträglichen Eheschließung.
Die fortlaufenden Untersuchungen des Deutschen Jugendinstitutes zeigen, dass die traditionelle Lebensform Ehe für die in ihr aufwachsenden Kinder den höchsten Grad an Stabilität der Lebensverhältnisse aufweist. 88 % haben bis 18 Jahren keine Veränderung ihrer Lebensverhältnisse erfahren, dagegen nur 17 % der Kinder, die seit der Geburt in einer Nichtehelichen Lebensgemeinschaft aufwachsen.
Herausforderungen für Ehepaare mit Kindern
Wer sich heute über den Trend der Individualisierung beklagt, darf nicht übersehen, dass wirtschaftlich erfolgreich vor allem der Unabhängige, Mobile oder der von seiner nichtberufstätigen Frau von Erziehung der Kinder und Familienarbeit freigestellte Karrierevater ist.
Der Zwang zur Mobilität, zum arbeitsbedingten Wohnungswechsel bedeutet in Bezug auf den damit verbundenen Schul- und Ortswechsel für Kinder und Partnerin bzw. Partner ein enormes Konfliktpotential. Noch nie zuvor waren so viele Menschen einer so hohen Zahl ständig neuer Kontakte und wechselnder anderer Menschen ausgesetzt.
Der Stress im Beruf und die Angst um den Arbeitsplatz sind immer häufiger chronische Belastungen, die sich massiv auf die Familie und die Partnerschaft auswirken. Der wirtschaftliche Druck auf Familien ist immens. In einem Brief der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin heißt es dazu: „Familien erscheinen wie Schiffbrüchige im oft unbarmherzigen Klima der technokratischen Arbeitswelt, machtlos dem ökonomischen Druck von Globalisierung und Rationalisierung ausgeliefert und geistig orientierungslos in einer durch und durch materialistischen und konsumorientierten Spaßkultur. Wo Eltern mit ihren Bedürfnissen nach Bindung, Orientierung und Verlässlichkeit alleine gelassen werden, müssen diese Bedürfnisse auch bei ihren Kindern auf der Strecke bleiben.“
Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Eine entscheidende Herausforderung für Männer und Frauen ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Weibliche Biographien der Gegenwart unterscheiden sich signifikant von denen ihrer Mütter und Großmütter. Mit dem Zuwachs an Bildungschancen erwarten Frauen selbstverständlich angemessene berufliche Möglichkeiten. Elisabeth Beck-Gernsheim hat den Einstellungswandel von Frauen auf die Formel gebracht: „Vom Dasein für andere zum Anspruch auf ein Stück eigenes Leben“.
Und sie erwarten echte Partnerschaftlichkeit und eine gerechte Aufgabenteilung im Haushalt und in der Erziehungsarbeit.
Untersuchungen zeigen, dass die Geburt des ersten Kindes für viele Paare der Beginn einer Krise ist. Denn Paare, die bis dahin eine partnerschaftliche, von beiden als gerecht empfundene Aufteilung der Hausarbeit hatten, kommen mit zunehmender Zeit wieder zu einer traditionellen Arbeitsverteilung, in der die Frau die Haus- und Erziehungsarbeit macht. Auch wenn Männer eine gerechte Aufgabenteilung wollen, ist es oft der Druck der Arbeitswelt, voll verfügbar zu sein.
Sind die Mütter voll berufstätig, organisieren sie dennoch oft die Kinderbetreuung und Hausarbeit. Wechseln sie in Teilzeitstellen, müssen sie nicht selten den Abstieg auf weniger qualifizierte Arbeitsplätze in Kauf nehmen.
Arbeiten beide voll, müssen Sie die Aufgabe lösen, im Alltag zwischen Beruf und Familie nicht nur noch damit beschäftigt zu sein, die Familie zu managen. Zeit für Gespräche und für die Zweisamkeit als Liebespaar müssen hart erkämpft werden.
Geben Frauen nach der Geburt ihres ersten oder zweiten Kindes ihre Erwerbstätigkeit auf, so wählen sie gleichzeitig die ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann. Im Fall der Scheidung ein hohes Risiko.
Ich wage zu sagen, dass die meisten Ehen an den Spannungen zwischen Partnerschaft, Kindern und Beruf zerbrechen.
Eine statistisch nicht erfasste Größe sind die sog. Übergangsfamilien, denen Trennung und Auflösung droht. Scheidungen passieren ja nicht von heute auf morgen. Ihnen geht stets eine längere oder kürzere Phase des Übergangs voraus. Manche Familien stabilisieren sich wieder, andere lösen sich auf.
Typisch für die Übergangsfamilien sind Lähmung, Resignation und Stagnation.
Wenn die Kinder nicht wissen, ob sie noch zwei Eltern haben, wenn sie aus der Schule nach Hause kommen, wenn weder Mutter noch Vater sagen können, ob sie beisammen bleiben wollen oder nicht, dann kann sich weder jedes einzelne Familienmitglied weiterentwickeln noch eine Familie als Ganzes wachsen. Oft herrscht eine Konfusion der Rollen, eine Umkehrung der Eltern-Kind- Hierarchie: Während die Erwachsenen sich wie Kinder streiten, müssen die Kinder die Erwachsenen trösten und um den Zusammenhalt der Familie kämpfen.
Ein klares Risiko für die Entwicklung von Kindern sind chronische Konflikte der Eltern.
Scheidungen, Patchwork-Familien und Alleinerziehenden-Familien
Etwa ein Drittel aller Ehen, in Großstädten sind es 50 %, wird geschieden. In knapp der Hälfte der Scheidungen sind Kinder mitbetroffen. Jährlich erleben rund 160.000 Minderjährige die Trennung ihrer verheirateten Eltern.
Scheidungskind zu sein bedeutet heute keine Ausnahme mehr.
Gegen Stigmatisierung und Bagatellisierung
In einer Hinsicht ist das gut: denn die Diskriminierung und Stigmatisierung von Kindern unverheirateter oder geschiedener Frauen war lange ein Problem, das auch die Kirchen mit zu verantworten hatten.
Vielleicht ist das ein Grund, warum die Orientierungshilfe so dezidiert die Gleichwertigkeit aller Familienformen betont.
Eine Scheidung kann durchaus eine konstruktive Lösung sein. Es ist ein Fortschritt, dass Frauen und Männer nicht mehr auf Gedeih und Verderb einer destruktiven Situation ausgeliefert sein müssen.
Auf der anderen Seite dürfen die Folgen für die Betroffenen nicht bagatellisiert werden. Eine Scheidung gehört statistisch zu den wichtigsten psychosozialen Gesundheitsrisiken. Dabei ist nicht klar, ob die Gesundheitsrisiken auf die Scheidung zurückgehen oder auf die Prozesse, die der Scheidung vorausgingen.
Die Kölner Langzeitstudie über kindliche Symptombelastungen in der Zeit nach Trennung und Scheidung der Eltern stellt fest, dass zunächst mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder mit massiven Verhaltensauffälligkeiten reagieren:
– Schul- und Leistungsversagen
– Soziale Isolation von Gleichaltrigen
– Depressivität oder
– Destruktive Aggressivität
Entscheidend ist, ob die Kinder nach der Scheidung zu beiden Eltern eine vertrauensvolle, emotional stabile Beziehung haben können. Dann verlieren sich die Verhaltensauffälligkeiten wieder. In 50 % aller Scheidungsfamilien hat allerdings ein Elternteil keinen Kontakt mehr zu dem Kind bzw. den Kindern.
Ob die Trennung durch die Erwachsene und die Kinder bewältigt werden kann, hängt mitunter davon ab, ob hilfreiche Begleitung verfügbar ist.
Fortsetzungs- oder Patchwork-Familien
Der Großfamilie früherer Zeit ähneln heute die Fortsetzungs-Familien oder Patchwork-Familien. Nach Schätzungen sind heute 20-30 % der Familien eine Patchwork-Familie.
Diese neuen Familienkonstellationen können an alle Beteiligten besondere Anforderungen stellen.
Die Kinder müssen sich in einem sozialen Geflecht von Halb- und Stiefgeschwistern orientieren. Mehrere Elternpersonen nehmen in unterschiedlicher Abstufung Einfluss auf sein Wohlbefinden. Das ist schon nicht einfach, wenn sich alle Erwachsenen verstehen.
Die Alleinerziehenden-Familie
Häufig haben Alleinerziehende diese Familienform nicht freiwillig gewählt. Der Anteil der Einelternfamilien beträgt über 22 % (2008). Bei vielen Alleinerziehenden hat sich die Lebenssituation verschlechtert. In NRW muss zurzeit die Hälfte der Alleinerziehenden auf Leistungen der Grundsicherung, Harz IV, zurückgreifen. 90 % der Alleinerziehenden sind Mütter.
Ein Großteil der ledigen Mütter entscheidet sich für die Schwangerschaft und damit gegen die Partnerschaft, denn oft will der Partner das Kind nicht. Wichtig ist, dass Alleinerziehende Menschen in ihrer Umgebung haben, die ihnen die Kinder mal abnehmen, sie entlasten, wenn sie nicht mehr können, und mit denen sie sprechen können.
Ich finde es sehr beeindruckend, zu erleben, wie gut sich Alleinerziehende und ihre Kinder im Leben zurechtfinden.
Ein-Personen-Haushalte
Der Anteil der Single-Haushalte wächst unaufhörlich: Mittlerweile gehört ein Drittel aller Haushalte (in Düsseldorf über 50 %, in München 67 %) dazu. In einem Single-Haushalt zu leben bedeutet nicht, beziehungslos zu leben.
Ein erheblicher Teil aller Einpersonenhaushalte sind verwitwete Frauen über 60. Nur etwa 3-5 % der Einpersonenhaushalte der 25 bis 55 Jährigen wählt diese Lebensform bewusst auf Dauer mit dem Anspruch auf hohe Autonomie.
Viele der Alleinlebenden wollen ihre Lebensform in Richtung Partnerschaft verändern, was aber in der Realität oft nicht gelingt. Schwierig kann es in Situationen werden, in denen durch Krankheit oder andere Einschränkungen, z.B. wirtschaftliche Probleme, die Selbständigkeit in Frage gestellt ist. Dann ist es entscheidend, ob tragfähige Bindungen vorhanden sind.
Welche Kirche brauchen Familien?
Eine Kirche, die verkündet und zeigt, dass Kinder ein Segen sind, ganz gleich, in welcher Familienform sie aufwachsen. Gerade auch um der Kinder willen ist Kirche aufgefordert, Familien in ihrer „Vielfalt unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen“, wie das die Orientierungshilfe ausdrückt. „Kirche unterstützt Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleitet sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen.“
Wolfgang Tress, Leiter einer Universitätsklinik für Psychosomatik, hat die heutigen Herausforderungen an die Kirche so formuliert: „Gefragt ist nicht die Vermittlung von Ideen und Werten in Sonntagsreden, sondern die Einladung zu Lebensformen, die die ziellose Suche der Menschen nach Bindung auffangen.“
35 % der Kleinkinder zeigen heute kein sicheres Bindungsverhalten mehr. Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Wenn Eltern verlässliche, feinfühlige Begleitung selbst erleben, können sie lernen, auch selbst feinfühlig mit den Bindungsbedürfnissen ihren Kindern umzugehen.
Entscheidend für die Biographie von Menschen ist, ob sie in bestimmten Krisensituationen Menschen begegnen oder Gruppen finden, die ihnen Halt und Verlässlichkeit vermitteln.
Auf einige Beispiele Ihrer Arbeit hier im Kirchenkreis möchte ich kurz eingehen:
Beispiel 1: Evangelische Kindertagesstätten und Familienzentren
Entscheidend für das Wohl der Kinder ist die Qualität der Einrichtung.
Ich finde die Arbeit der Erzieherinnen in unseren Kindertagesstätten immer wieder beeindruckend. Liebevoll und aufmerksam gehen sie auch mit schwierigen Kindern um. Durch ihre Verlässlichkeit vermitteln sie manchen Kindern etwas von der Bindungssicherheit, die sie brauchen, damit sie zu selbstbewussten, fröhlichen Menschen heranwachsen können.
In ungezählten „Zwischen-Tür-und-Angel-Gesprächen“ gehen sie auf die Sorge von Eltern ein, entlasten oder verweisen weiter. Hier ist das Konzept der Familienzentren, die eng mit den Beratungsstellen zusammenarbeiten, wirklich hilfreich.
Von Nelson Mandela stammt der Satz: „Eine Gesellschaft offenbart sich nirgendwo deutlicher als in der Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht.“
Das gilt auch für uns als Kirche.
Beispiel 2: Familienhilfe durch Beratung und Begleitung
Familien zu begleiten im Scheitern und bei Neuaufbrüchen ist Aufgabe der Kirche.
Max Frisch bringt es so auf den Punkt: „Die Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Der Krise den Beigeschmack der Katastrophe nehmen, genau das ist eine präzise Beschreibung für die Aufgabe und die Chance kirchlicher Seelsorge, Beratung und Begleitung. Wenn Menschen sich in Krisen an die Kirche wenden, dann verbinden die meisten damit etwas ganz bestimmtes, nämlich Hoffnung! „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden“, so heißt es bei Paulus im Römerbrief (5, 5).
Der Krise den Beigeschmack der Katastrophe nehmen, das gilt ganz besonders für die Kinder und Jugendlichen. 40-50 % der Kinder und Jugendlichen, die in einer Erziehungsberatungsstelle vorgestellt werden, haben Trennungs- und Verlusterfahrungen zu bewältigen. 30 % leiden an massiven emotionalen Auffälligkeiten: massive Ängste, Depressivität oder unkontrollierte Aggressivität, soziale Isolation.
Dass Veränderung möglich ist, wissen wir aus den Entwicklungen der Jugendlichen. In repräsentativen Befragungen der Klientinnen und Klienten sagen an die 90 % von ihnen, dass die Beratung hilfreich war.
Kirchliche Familienhilfe und Beratung ist Anwaltschaft für die Kinder.
Beispiel 3: Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit
Kindheit und Jugend sind heute nicht die unbeschwerte Zeit, für die manche Erwachsene sie immer noch halten. Ein großer Teil der nachwachsenden Generation in den Städten lebt in armen Verhältnissen und hat einen Migrationshintergrund. Die Arbeitsgesellschaft hat das Lebensgefühl der Jugendlichen eingeholt: „Auf dich kommt es nicht an“, und „Du bist verantwortlich für dein Scheitern“. Münchmeier spricht von der Unbehaustheit vieler Jugendlicher und einer mangelnden Kultur der Anerkennung.
„Wir leben in einer Gesellschaft pubertierender Sechzigjähriger und vergreister Pubertierender“, so Richard Münchmeier, Psychologie-Professor aus Berlin.
Kinder- und Jugendarbeit gelingt heute nur, wenn sich die Kinder und Jugendlichen wahrgenommen und akzeptiert fühlen und sie Unterstützung und Ermutigung erleben. Gerade Kinder und Jugendliche, für die ihre familiäre Situation im Moment schwierig ist, suchen nach Halt und Verlässlichkeit. Manchmal sind Jugendleiterinnen und Jugendleiter, Pfarrerinnen und Pfarrer stellvertretend für eine gewisse Zeit ihre Vertrauensperson.
Ich zitiere Olof Palme: „In die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder zu investieren heißt, in unsere Zukunft zu investieren.“ Kinder und Jugendliche, ein Segen und unsere einzige Verbindung in die Zukunft.
Beispiel 4: Pflege und Betreuung für alte Menschen
Pflegebedürftige werden immer noch überwiegend in Familien gepflegt, überwiegend durch Frauen. Deshalb ist ein weiterer Ausbau der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen notwendig. Hilfreich für die pflegenden Familienangehörigen sind Gesprächsgruppen für Pflegende.
Ein gutes Beispiel für die Arbeit mit alten Menschen sind Besuchsdienstkreise. Besuchsdienstkreise besuchen z.B. die alten oder kranken Menschen der Gemeinde. Erzählen zu können, die eigene Lebensgeschichte oder die eigenen Leiderfahrungen, kann heilsame Wirkung haben. Gerade Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Flucht müssen immer wieder erzählt werden, um bewältigt werden zu können. Jetzt, wo die Kriegsgeneration alt wird, brechen viele unverarbeitete traumatische Erinnerungen wieder auf.
Beispiel 5: Der Sonntag – gemeinsame Zeit für Familien
OH: Familien brauchen Zeit füreinander, gerade Kinder brauchen verlässliche Zeiten. Erwerbsarbeit und Schule haben unterschiedliche Rhythmen. Der Sonntag bleibt als gemeinsame Zeit für Familien besonders wichtig. Ebenso bedeutsam sind Familienfeste.
Beispiel 6: Zuspruch und Segen an Wendepunkten des Lebens
Dass Taufen, Trauungen, Segnungen in Schulanfängergottesdiensten, aber auch Beerdigungen für Familien eine zentrale Bedeutung haben können, steht für mich außer Frage. Ich möchte hier nur kurz auf drei Aspekte eingehen: Taufe bei Alleinerziehenden Familien, Konfirmationen in Trennungs- und Scheidungsfamilien und Kirchliche Trauungen.
Noch immer ist es so, dass manche Alleinerziehende ihr Kind nicht taufen lassen. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich ein Tauffest nicht leisten können. In letzter Zeit gibt es dazu hoffnungsvolle Initiativen, nämlich Tauffeste, wo viele Kinder getauft werden und hinterher miteinander gefeiert wird.
Bei Konfirmationen ist es eine seelsorgliche Aufgabe, mit den geschiedenen Eltern auszuloten, ob und wie ein gemeinsamer Gottesdienstbesuch und ein gemeinsames Fest möglich sind. Denn genau das wünschen sich die meisten Konfirmandinnen und Konfirmanden.
Trauung: Nicht Ehe und Familie sind ein Segen, sondern sie sind Raum für die Erfahrung von Gottes Segen. Wenn Luther davon spricht, dass die Ehe ein weltlich Ding ist, dann meint er damit, dass von ihr keine Heilswirkung ausgeht. Deshalb ist sie kein Sakrament. Wohl aber gute Gabe Gottes.
Das ist die Aufgabe kirchlicher Trauung: Die Erwartungen von Glück und Segen nicht auf den Partner, die Partnerin zu richten, sondern auf Gott.
„Seitdem der Glaube an ein jenseitiges Leben, das Glück und Erfüllung verheißt, abhanden gekommen ist, befinden sich viele auf der vergeblichen Suche nach dem Glück auf Erden. […] Viele reden von Liebe und Familie wie frühere Jahrhunderte von Gott. Die Sehnsucht nach Erlösung und Zärtlichkeit, alles hat einen Hauch von alltäglicher Religiosität, von Hoffnung auf Jenseits im Diesseits. Die Sucht nach Liebe ist der Fundamentalismus der Moderne“, so Ulrich Beck.
Deshalb ist die religiöse Suche dort zu verorten, wo sie hingehört: in den Bereich des Glaubens und nicht in den Bereich von Ehe und Familie.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder,
alles, was wir Menschen tun, in unseren Beziehungen wie in unserer Arbeit, kann nur in aller Unzulänglichkeit und in wohlverstandener Demut geschehen, im Wissen, dass unser Reden und Tun Stückwerk bleibt.
„Stückwerk ist unsere Erkenntnis, Stückwerk ist unser Leben“, sagt Paulus (1. Kor. 13). Die Vergebung von Schuld, das Leben allein aus Gnade, die Freiheit zu einem Neuanfang, gehören zur Mitte des NT. „Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit.“
Ich schließe mit zwei Zitaten: Dietrich Bonhoeffer sagt mit Blick auf den fragmentarischen Charakter des Lebens: „Unsere geistige Existenz bleibt ein Torso. Es kommt nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht.“
Und Bischof Kameta aus Namibia: „Die Wunder unseres Lebens geschehen nicht in unserem Erfolg, sondern wenn wir am Boden liegen.“
Edwin Jabs, 24. Mai 2014